samoth
Donnerstag, 29. Mai 2008
Das Leben ist halt strange – 29.05.08
Es fühlt sich wieder leichter an heut morgen. Weniger druckvoll. Hab meine Pflichten samt und sonders auf morgen verlegt – die Steuer als größten Faktor. Bin ich deswegen wieder etwas leichter?

Heute nicht denken, Tag?

Im Park liegen. Die Eier schaukeln. Die Bötchen beobachten. Die Weiber. Die Titten. Das Leben. Die Liebe und die Tiere. Im Frühling. In Berlin.

Nach über einem Jahr. Ziemlich genau wie viel Tagen?

Am 14.03. um 16.57 Uhr bin ich los. Vom Hauptbahnhof Freiburg. Und war so gegen 23 Uhr in Berlin. Irgendwie bin ich über Greifswalder Straße in der Frankfurter Allee S-Bahn-Haltestelle angekommen.

Das hat sich alles unglaublich verwegen angefühlt. Nach Supergroßstadt. Auch ne gute Portion Angst vor dem Verlaufen war da dabei. Ich hatte ja nur meine Zimmerschlüssel von meiner Untervermieterin für 2 Wochen, die zu dem Zeitpunkt in den USA war.

Mein Gott war das alles neu. Und unbekannt. Und groß und unübersichtlich.

Das Geräusch, wenn die S-Bahn schließt: Tüt-tüt-tüt-tüt.

So aufregend, so oft ich das auch immer gehört hatte, so aufgeregt war ich. Das ist heute komplett anders. Alles eingewöhnt. Gewöhnlich. Routiniert. Es geht heute um Kopfhörerlärm. Um Nasenhochziehen. Um süße Babys, die einen angrinsen. Um hübsche Ausschnitte, die einen auch manchmal angrinsen. Es geht um die tägliche Routine, des sich nicht annerven Lassens. Ach ja, fast hätte ich die schönen Handy-Gespräche vergessen, die man jederzeit mithören darf.

Zurück zum 14.03., spät am Abend. Ach, ich erinnere mich, ich hatte meine Untervermieterin ja bereits ein paar Wochen vorher in Berlin getroffen und mir da auch den Zweitschlüssel geben lassen. Mit ihr habe ich heute keinen Kontakt mehr. Hauptsächlich, weil sie einen Hund bekam und zu dem bei unserem letzten Zusammentreffen so oft und so nervig „Good girl“ gesagt hatte. Kann man sich nicht vorstellen, wie das genervt hat – wobei natürlich auch kein vernünftiges Gespräch zustande kam.

An jenem ersten Abend: allein in Berlin. Zum ersten Mal kein Gast mehr. Sondern, ja, auf 2 Wochen Einleburlaub. Bevor es Anfang April in die neue Wohnung gehen sollte, mit meinen nachgereisten, beigeladenen Möbeln – die ich nur per Zufall, da die Möbelpacker einen Tag zu früh damit erschienen waren, dank intuitiv eingeschaltetem Handy, das ich nach 4 Wochen dann wieder zurückgegeben habe, beim Eintreffen abpassen und einladen konnte. Dann in meiner neuen WG, die jetzt nach ja sagen wir, 14,5 Monaten, 1 Jahr und 2,5 Monaten oder genau: 365 + 78 Tage = 443 Tagen. Also morgen werde ich 444 Tage in Berlin sein.

An jenem erste Abend kam ich an, im S-Bahnhof Frankfurter Allee. Und, ja, es muss relativ warm gewesen sein. So glaube ich zumindest. Vielleicht war es aber auch nur die Aufregung, das alte Leben ziemlich komplett zurückgelassen zu haben. Und in dieser Riesenstadt insgesamt genau 3 Menschen zu kennen. Und dabei das alte Leben, mit vielen guten Freunden komplett zurück gelassen zu haben. Auch die Familie war ja weit weg.

So bin ich dann zu meiner 2,5 Wochen Wohnung gegangen, die für mich allein bereit stand. Durch die Nacht, durch die Straßen der Friedrichshainer Gegend, die doch nicht ganz unabenteuerlich aussah. Ich hatte ziemlichen Respekt, vor den Altbauten, die abbruchreif in der Gegend rumstanden und noch stehen. Vor den ziemlich unübersichtlichen Straßenzügen, die später schnell übersichtlicher wurden. Kam dann in die Schreinerstraße und schließlich vor der Wohnung an. Sehr spannend. Mit vielen Büchern und schönem altem Bett – sehr gemütlich. Natürlich mit frischer Bettwäsche.

Heute bin ich hier. In einer neuen Wohnung.

Ich weiß noch genau, wie mein Gefühl damals wechselte zwischen „toller neuer Welt, mit in der Mittagssonne sitzen und Chinapfanne mit Hähnchenfleisch beim Chinesen essen“ und „Ich habe super Angst vor der ungewissen Zukunft, ohne Kontakte, ohne Job, mit wieder mal tausend Ideen“.

Diese Gefühlswelt wurde sehr stark durch ein Buch des Dalai Lama beeinflusst. Mit sehr vielen wunderbaren Regeln. Von Liebe und Vertrauen, die man in die Welt trägt. Von Toleranz und Güte. Und? Ich wollte das auch alles genau so machen. Ja, das weiß ich noch. Auch wenn ich manches Mal erahnte, dass mir das nicht ganz gelingen würde. Herrje, was hatte ich damals gelesen, all die interessanten Bücher, Paulo Coehlo, Murakami, auch Djian? Ja, wunderbar, vor dem riesigen Bücherregal, in dem alten Oma-Sessel – ich glaube, es war kein richtiger Ohrensessel, aber saugemütlich, auch mit den ganzen Decken um mich rum. Es war nämlich insgesamt noch ziemlich kalt, im nach Norden raus gelegenen Zimmer in Berlin, ohne Heizung anmachen. Mitte bis Ende März.

So ging ich leicht und manchmal ganz schwer durch meine ersten Berliner Tage, ja, und ganz schnell war Freiburg, das Leben der letzten 7 Jahre, ziemlich weit weg. In meinem Kopf und auch in meinem Herzen. Bis auf solche lustigen Momente, wenn ich einen 50 Euro Schein aus dem Geschenk einer guten Freundin herausrieseln sah – die eigentlich gar nicht für mich gedacht waren, sondern für den ursprünglichen Geschenke-Empfänger, der die schön eingepackte Flasche spanischen Sekt aber offensichtlich gar nicht ausgepackt hatte.

Warum schreibe ich das hier? Nach 443 Tagen Berlin. Ich merke, wie mir mein Detailversessensein beim Schreiben zugute kommt. In jedem Fall meinen Stil prägt. Aber was heißt schon Stil? Ich, Scheibe, auf deinen Stil. Um hier nicht irgendwelche Kraftausdrücke zu verwenden. Auf deinen Stil, auf meinen Stil?

Auf Stil.

Aber auch das ist ja ein Stil. Und genau das ist mein Dilemma. Keine Rolle spielen zu wollen und zu erkennen, dass auch das eine Rolle ist. Nicht cool sein zu wollen und zu erkennen, dass ich aber aus Schüchternheit oft so cool rüberkomme. Kein Gutmensch sein zu wollen, aber doch oft in das Verhalten von Gutmenschen reinzurutschen: dogmatisch, streng zu sich selbst, verbissen und die Lebendigkeit einbüßend.

Kein Spießer sein zu wollen. Kein Juppie – sofern diese Bezeichnung noch erkannt wird. Kein. Hauptsache kein. Aber, oh Wunder, das klappt natürlich nicht. Warum auch? Ich bin ein was auch immer. Da kann ich mich auf den Kopf stellen. Und das versuche ich wahrlich oft genug.

Mich abzugrenzen. Aber ich will doch auch dazugehören. Geliebt werden. Gemocht werden. Geschätzt werden aufgrund meiner Liebenswürdigkeit. Und am wichtigsten: aufgrund meiner fachlichen Kompetenz. Womit wir wieder beim ernsten Fach wären, und beim 150%igen. Wie sogar meine Mutter mich auch gerne bezeichnet – wiewohl sie sonst so freundlich und gütig in ihren Zuschreibungen mir gegenüber war und vor allem ist.

Wie war das zu Beginn so aufregend. Mich in die Bahn zu setzen. In einer 3,4 Millionen Menschen Stadt. Durch die Hauptstadt mittendurch zu fahren. Am Reichstag vorbei, an den Bundestag-Glasgebäuden, am Kanzleramt, am Alex vorbei, an der Siegessäule, auf die alles sternförmig zuläuft, die alten, tollen Museen, die zum Teil keine 50 Meter neben der S-Bahnstrecke liegen.

Den Berliner Dom, mit seiner Kuppel, mit seiner eindrucksvollen Spitze und den 4 Türmen, die ebenfalls wie Kuppeln geformt waren, nur deutlich kleiner. Viel vergoldet. So wie auch die Siegessäule.

Ja, das ist immer noch das kurze Zucken, eine kleine Gänsehaut. Diese Weltstadt, Hauptstadt, Weltläufigkeit macht mir noch, wenn auch kleine, wohlige Schauer – allerdings so selten.

Ich weiß noch, wie ich mit dem Bloggen anfing. Und mir überlegte, soll ich oder soll ich nicht. Das machen doch so viele. Und dieses Sich-Ausziehen, sich darstellen. Das war dann doch ziemlich schnell sehr spannend und aufregend. Insbesondere wenn es dann auch mal konkretes Feedback gab und Menschen, die meinen Blog abonnierten, also wie so ein Zeitungsabo, dass automatisch die neuesten Ausgaben an den Empfänger schickt.

Heute ist das anders. Ich tue mir schwer, mich nicht völlig lächerlich zu empfinden. Ich merke, wie ich alles andere als davon überzeugt bin, dass ich etwas Spannendes mitzuteilen habe. Oder etwas stilistisch Anspruchsvolles. Lediglich das Echte, Wahre nehm ich mir noch selber in gewissem Umfang ab – was ist schon zu 100% echt???

Und so schreibe ich auch jetzt vor mich hin – auch mit der Überlegung diese Zeilen in den Blog zu stellen.

443 Tage Berlin. Und ca. 2460 Tage Freiburg. Gut 5 mal so viel – da ist wieder dieser Genauigkeitssinn, oder -wahn?!

Herrje, Freiburg, du wunderschöne, wunderbare, ruhig kleine, schmucke Stadt an der Dreisam. Doch geliebt haben wir uns nicht wirklich. Dazu war ich zu sehr mit mir selbst auf Kriegsfuss. Hatte zu selten Ruhe vor mir selbst. Meinen Ansprüchen. Hatte zu oft selbstzerstörerische und wohl auch, schlimmes Wort, depressive Phasen, als dass man da von Liebe sprechen könnte.

Aber, die Stadt selbst? Doch. Sehr liebenswürdig; die Gegend, ein Traum. Die Berge, die Natur, die vielen Bäume und Sträucher in der Stadt. Die wunderbaren Jahre in der 4er-WG. Herrje, das kommt mir vor, als wäre das Jahrzehnte her. Auch die nervigen Zusammenstöße mit meinem Hauptmieter von damals. Das kleine Männlein, dass selten Hass, zum Schluss immer öfter Bedauern, Mitleid bei mir hervorgerufen hat.

Freiburg!

Mit seinem ruhigen Gang, mit seiner Beschaulichkeit und auch Überschaubarkeit. Die immer gleichen Gesichter in der Innenstadt. Die gleichen Frauen. Die gleichen Brüste. Die gleichen Bedienungen. Herrje, was gab es da für immer wieder gleiche Aufwallung, in meinem Herzen, in meiner Brust. In meiner Shortzone.

Die eine, das junge Ding, Pia hieß sie glaube ich, in einem netten Café, mit Biergarten, direkt in der Fußgängerzone, aber auch etwas abseits gelegen von den Touristenpfaden. Dieses junge Ding, mit den perfekten Brüsten. Per – fekt!

Und so gab es einige, die ich in den immer gleichen Diskotheken sah. Und, getarnt, anstarrte, mich danach sehnte mit ihnen zusammen zu kommen. So Frauen auch, wie meine Slowakin. Herrje, oder eine andere, die zuvor meine Schülerin war – natürlich volljährig.

Ja, das war so verkehrt nicht.

Die vielen trockenen Tage. In meiner Shortzone. In meinem Kopf. Wo mein Motor so oft, so heiß lief. Trocken, ohne Ölung, ohne Ziel. Immer weiter lief. Und mir dabei helfen wollte, einen Kunden und Aufträge zu finden.

Und die vielen, vielen Tage, die ich vor dem Leben da draußen flüchtete, in meinem 26 qm Altbau-WG-Zimmer, vor den Fernseher. Und dabei gerne die Rolläden runterließ, damit mich mein Hauptmieter nicht dabei sehen konnte. Und es mir nicht so oft „aus Brot schmieren“ konnte.

Die Zeiten des super schlechten Gewissens. Der Superflucht vor dem Leben vor der Haustür. Mein Gott, ich hatte mir einfach gar nichts zugetraut. Hatte mir Pläne gemacht wie ich ohne Kundenkontakt Aufträge gewinnen bzw. bearbeiten konnte. Weil ich soviel Angst hatte, vor den Menschen, die so viel professioneller und besser als ich waren – oder sind?!

Den Zeiten der Ko-Abhängigkeit, wie das wohl in der Fachsprache heißt, in denen ich meinem Mitbewohner, der ja auch ein Mietbewohner war, dabei helfen wollte, vom Alkoholismus loszukommen. Über mehrere Jahre, mal versteckt, ja, und dann teilweise ganz offen, das Thema ansprechend. Und so Vorschläge machend, wie: „Ich esse jetzt 2 Wochen keine Schokolade mehr und du trinkst dafür keinen Schluck“. Oder hatte ich das auch mal mit der Fernseh-Verzicht-Variante angeboten?

Von 2001 bis 2004 habe ich mich dermaßen mit mir selbst beschäftigt, dass für alles andere so gut wie kein Platz war. Ich war so oft in meinem Kopf. Aber wie sieht das denn heute aus?

Diese Neigung, alles intellektuell anzugehen und zu analysieren, zu durchdenken, die habe ich immer noch. Und die wird sicher auch nie ganz weggehen. Glaube ich. Die Frage ist, wie viel Raum ich dieser Neigung geben will. Jetzt beim Schreiben hilft sie mir sicher. Später, im Tag, wenn ich einfach so durchs Leben schlendern werde, ohne Pflichten für heute, da ist das schon oft hinderlich, weil mir berufliche oder frauentechnische Bedenken kommen und ich sie allzu oft weiterdenke oder durchdenke, von verschiedenen Seiten betrachte, bzw. einfach mit neuen Aspekten von meinem Oberstübchen befeuert werde.

Ich, Scheibe, auf deinen Stil.

Ich sch... auf, ja, auf die Meinung anderer?

Das gelingt mir deutlich öfter als noch in Freiburg. Aber, auch hier bin ich sehr oft gefangen, allzu oft auch ohne es währenddessen zu merken.

Herrje, alles immer richtig machen zu wollen: meine Bedürfnisse zu erkennen und sie zu bedienen, meine Gefühle zu erkennen und sie „richtig“ auszuleben. Und dann natürlich auch die Bedürfnisse (oft die angeblichen, die ich glaube zu erkennen, ohne es wirklich zu wissen) der Anderen zu berücksichtigen, und mich in irgendeiner Form daran anzupassen – z.B. sie zu bedienen mit meinem Verhalten, oder sie gerade nicht zu bedienen – ja, natürlich auch beim Thema „Frauen kennen lernen“. Gott, wie mich das manchmal anpisst. Und annervt.

Dass ich da nicht einfach viel mehr mein eigenes Ding mache und dann schaue, wer da mitmachen möchte. Und nicht umgekehrt – typisch Marketing – so oft danach schaue, was die anderen für Bedürfnisse haben und zu gucken, ob ich mich so verhalten kann, dass ich davon was für meine Bedürfnisse abbekomme. So als Art Bittsteller und heimlicher Wünscher (bitte, erahne doch meine Bedürfnisse und verhalte dich entsprechend) vor diesen Situationen stehe und dann wie in Zeitlupe „gelebt“ werde.

Anstatt selbst zu leben. Zu fühlen, was ICH dann fühle. Zu machen, was ICH machen möchte.

Hm, das hab ich wohl wunderbar in meiner Kindheit gelernt, schon im Kindergarten, mit meiner ersten „großen Liebe“, und im Elternhaus natürlich auch: Rücksicht auf die wichtigeren Bedürfnisse der Eltern nehmen.

Ach, ich werfe es ja gar keinem mehr vor. Ich verstehe ja, dass auch „die Anderen“, alle Anderen da ihren eigenen Zwängen unterworfen sind und so frei wie ich das lange dachte und immer noch spontan oft denke, gar nicht sind.

Tja, Freiburg. Tja, Berlin.

Tja, Australien. Tja, Kieferbruch. Tja, tollste Frauenbeziehung. Tja, kleines Mädchen, dass gerade so rumquickt, dass, wäre sie in meiner Nähe, ich nicht wüsste, ob ich ihr eine Scheuern müsste, mein Gott, so hoch und laut kreischt und quietscht sie gerade rum, ja, und noch mal: Gott sei dank ist sie nicht in meiner Nähe, sondern auf dem Spielplatz, der 100 Meter von meinem Fenster entfernt, liegt – bei geöffnetem Fenster.

Tja, Leben.

Wie schaut’s aus?

Was bringst du mir noch?

Ich denke mir gerade, wie es wäre, an einem Fluss zu sitzen. Irgendwo, oder so als Metapher. Also einfach einen Ort zu haben, von dem man sich nicht mehr weg bewegt und alles andere, all die Anderen, also das ganze Leben, an sich vorüber ziehen lässt. Sich nicht auf das Leben selbst zu bewegt.

Wie wäre das denn?

Tatsächlich einen buddhistischen Ort zu finden, ein Kloster gar? Na ja, für immer???
Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Das fühlt sich zu wenig lebendig an. Dann lieber „Schmerz als gar kein Leben“ oder so ähnlich hatte ich das in einem Interview mit einem bekannten englischen Dramatiker gestern gelesen.

Obwohl dieses „kein Leben“ natürlich quatsch ist. Im Kloster oder auch nicht im Kloster, wenn ich aber hauptsächlich an einem Ort bleibe und mich damit begnüge, was „mir zufällt“, herrscht natürlich Leben.

Früher war das ja wohl eher der Normalfall, wenn wir mal ein, zweihundert Jahre zurück gehen in unserer Geschichte („Ach Mädelchen, schrei doch nicht so wie am Spieß!!! Dat macht micht bekloppt!“).

Ja, da war das tatsächlich, lebenswert? Liebenswert?

Bescheiden. Ohne viele Möglichkeiten. Sein vorherbestimmtes (?) Leben zu leben. Mit der Familie. Mit den umliegenden Nachbarn. Im Dorf oder in der Kleinstadt. So war das wohl. Mit viel Arbeit, wenig Licht. Mit viel Zwängen. Mit viel Enge. Und mit nicht so viel Freuden?

Hm, und was war mit der Liebe? Mit dem Sex? Auf so engem Raum teilweise.

Wie war das zum Beispiel bei meinem Großvater, ich sag lieber Opa, Gott hab ihn selig (bin ich dann doch gläubig, weil ich ja so was sage?)?

Wie war seine Kindheit, die kurz vor dem ersten Weltkrieg begann? Wie war seine Jugend, die einige Jahre vor dem zweiten Weltkrieg endete?

In dem Haus, wo auch seine Eltern lebten? Nein, er baute sich und seiner Familie, meiner Mutter ein eigenes, glaube ich. Wo ich selbst später in meiner späten Jugend bis zum 28. Lebensjahr gelebt habe. Unter dem Dach. Von meinem Opa noch zu Lebzeiten ausgebaut.

Wie war das mit seinem Leben, als er mit um die 30 Jahren in russische Gefangenschaft geriet und es geschafft hat, nicht zu sterben?

Wie war das mit seinen (Schnee-/Eis-)Märschen, wohl auch durch den russischen Winter, wofür er mindestens einmal auch ausgezeichnet wurde, weil er als erster ankam. Durchgehalten hat. Ein Talent von dem ich sicher auch etwas abbekommen habe.

Wie hat er sich gefühlt? Als er aus dem Krieg, aus der Gefangenschaft zurück kam. In eine Welt der Niederlage. Des besiegt Seins. Des schlechten Gewissens. Der Nazi-Verdrängung. Mit einer Frau, die sehr fürsorglich, aber auch sehr unnahbar war. Immer schon war? Mit einem Beruf den er liebte, als Schreiner, aber ohne die entsprechenden kaufmännischen Fähigkeiten, um auch dauerhaft damit leben zu können.

Mit, also, einer beruflichen Niederlage, mit der er sich als Angestellter später viele Jahre den Lebensunterhalt verdingte. Um die Frau und seine drei Töchter – eine davon meine Mutter – aus den Nachkriegsjahren zu bringen. In die Wirtschaftswunderwelt. Die Schreinerfirma hieß Bläser, da kann ich mich noch gut dran erinnern, weil er auch als Rentner noch gute Kontakte zu seinem Chef hatte, der seine Fachkenntnis sicher sehr schätzte. So denke ich mir.

Seinen Dickschädel hat er wahrscheinlich nicht so geschätzt. Aber alles in allem war er sicher eine wertvolle Hilfe, eine wertvolle Arbeitskraft – was für ein schei... Begriff!

Tja, Opa. Und dann kam deine große Fernsehzeit. Ups, davor die Zeit hab ich doch glatt unterschlagen. Wie er mit ca. Mitte Fünfzig, Anfang Sechzig, auch unser Elternhaus mitbaute – wenn ich den Erzählungen meiner Mutter glauben kann, ja, fast allein gebaut hat. Anfang der 70er Jahre muss das gewesen sein. Meine Eltern immer noch recht jung, Anfang/Mitte Zwanzig. Und das mit inzwischen 2 Kindern, einer nicht wirklich glücklichen Ehe und einem Hausbau. Jetzt realisiere ich auch, warum meine Eltern mit der 68er-Bewegung rein zeitlich sehr wenig zu tun haben konnten – nicht zu sprechen von ihrer geistigen Verbindung oder besser Nichtbindung mit diesem Thema. Sie mussten anpacken, ranklotzen, um „den Laden“, die Familie, das Haus ins Laufen zu bringen, am Laufen zu halten.

(„Da ist doch auch mein kleiner Schreihals schon wieder, leiser aber als vorhin, vielleicht schon ausgepowert durch das viele Herumgeplärre.“)

Mein Gott, was für Zeithorizonte, die ich da gerade durchschreite.

Annähernd 100 Jahre – mein Opa muss um das Jahr 1912 geboren sein, und 1996, 74-jährig gestorben, so ca. – sind das.

Fast 100 Jahre, und wozu das alles?

Was hat das gebracht?

Für die Menschheit? Was bringt es mir? Wo soll es noch hinführen?

Nach 443 Tagen in Berlin. In einer Stadt, die mich fordert. Scheinbar noch nicht genug, da ich immer noch Fluchtmöglichkeiten finde, wie jene, die ich gestern gefunden habe, um mich vor einem lukrativen superkurzfristigen Job zu drücken. Schade, eigentlich.

Ja, ist das schade? Ist dieser Text heute, für mich, nicht wichtiger. Den hätte ich sonst nicht schreiben können. Weder zeitlich noch muße-technisch wäre ich dazu wohl in der Lage gewesen.

Dickschädel, eigenbrötlerisch, intellektuell verweichei-t, einfühlsam, manchmal dynamisch, fordernd, führend, leicht, manchmal schwer, weltkrank und selbstbemitleidend, oft 150%ig, verbissen, aber auch ausweichend, Schlendrian einkehren lassend, und, ja, ruhig.

Jetzt.

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